Wäscheständer in der U-Bahn und warmer Regen
Ein Interview über Heimat mit den Matrosenhunden
Vor 4 Jahren stand ich auf der Leipziger Buchmesse. In der Halle 4. Dort wo die kleinen Buchverlage sind und die Kunstschulen Abschlussarbeiten ausstellen. Und an einem kleinen Stand habe ich die Nummer 7 (von 20) der limitierten Auflage des kleinen Risographie-Heft’s: „Heimat klappt besser, wenn ich nicht dort bin“ gekauft. Von den Matrosenhunden. Sie hatten mit dem Heft die Antwort für mich und meinem „Heimat-Dilemna“ eingefangen – auf ein paar Seiten. Daheim habe ich recherchiert. Wollte mehr haben von den Matrosenhunden und wurde etwas süchtig. Nach den Geschichten, die ihre Werke in meinem Kopf regelmäßig losgetreten haben.
Vier Jahre später, also vor kurzem, habe ich bei M i MA, einem der wundervollsten Blogs im Netz, einen Beitrag über die Matrosenhunde gelesen. M i MA hat mit Ihnen ein wunderschönes Interview geführt, das ihr hier nachlesen könnt. Meine Heimat – in Form der besten Freundin – meldete sich und meinte, hast Du bei M i MA gelesen, dass Fine in Oberschöneweide groß geworden ist? Hatte ich! Wow. Kreise. Überall.
Wir haben Fine und Madeleine getroffen und ganz lange und sehr herrlich über Heimat gesprochen. Über Ost und West. Über die Schafe auf der Theresienwiese in München, Perlenketten in Kiel und das beruhigende Geräusch, wenn die Straßenbahn um die Ecke quietscht.
Interview mit den Matrosenhunden
Wo kommt ihr her?
Verbindet Euch noch etwas mit diesem Ort?
Fine: Oberschöneweide, Berlin. Daher habe ich meine Liebe zur Industriearchitektur, zur Abendsonne und meinen Willen, mich immer durchzuwursteln – auch, wenn mir jede Nacht in den Hausflur gepinkelt wird.
Madeleine: Ich komme aus München. Meine Eltern sind beide dort geboren, und obwohl ich selbst kein Bayrisch – bzw. Münchnerisch – spreche, fühle ich mich dort einfach historisch verwurzelt. Ich liebe die Isar, echte Brezn, Biergärten und das goldene Licht im Hofgarten. Die katholisch geprägte Hügellandschaft des Dachauer Hinterlands, wo ich den Großteil meiner Kindheit verbracht habe. Kleine Weiher, die Alpen, Technicolor-Farben und Steckerlfisch. Im Grunde also alle guten Klischees und das behagliche Gefühl, dass alles funktioniert und geregelt ist. Es gibt Rolltreppen, klare Zuständigkeiten und eindeutige Vereinbarungen. Am schönsten See bei München kam einmal ein Mann im grünen Overall, um an einer robusten, noch seidig polierten Ausflugsbank prophylaktisch die Schrauben festzuziehen. Für die Sicherheit. Im Angesichts eines Berges und des silbern glitzerndes Wassers. Das ist für mich Bayern in einem Bild. Gleichzeitig bin ich auch aus diesem Grund von dort weggegangen und habe mir neue Gefilde erobert, die mehr mit meinem Inneren Ich zu tun haben. München wird ja immer bleiben, auch wenn ich aus Gründen nicht dort lebe, einfach durch meine eigene Geschichte.
Madeleine an der Isar
Ist das eure Heimat?
Fine: Jahrelang hat es gereicht, Berlin als Heimat zu haben. Dabei kenne ich immer noch nicht alles. Mein Opa ist jede Woche mit dem Bus oder der U-Bahn immer eine Station weiter gefahren, da ausgestiegen und hat sich „mit dem Viertel vertraut gemacht“. Meine Kinder-Heimat besteht auf jeden Fall aus mehreren Orten: OSW, Friedrichshagen, Treptow, Mitte, Prenzlauer-Berg, Braunsdorf, Töpchin. Mit jedem Lebensjahr und jeder neuen Station erweitere ich meinen Heimat-Begriff.
Madeleine: München ist ein Teil meiner inneren Heimat, meiner Identität und Vergangenheit und vor allem meiner Familie. Mein Opa hat dort Schafe gehütet auf der Theresienwiese, meine Oma ist dort mit mir einkaufen gegangen und zu „Pizza Hut“ (deutsch ausgesprochen), meine Mutter ist dort aufgewachsen und hat immer dort gelebt, mein Vater hat dort Brücken und Kanäle gebaut und Baustellen fotografiert, meine gesamte Verwandtschaft ist in erster Linie aus München und dem bayrischen Schwaben, hinter Augsburg. Jetzt ist der Großteil meiner Herkunftsfamilie mittlerweile tot.
Nostalgisch sein und mich kurz verorten und überall Erinnerungen aufsammeln. Eine Zeitung aus dem Zeitungskasten holen und „Grüß Gott“ sagen. Dann kann ich auch wieder fahren. Zurück nach Berlin, die Stadt, mit der ich lange warm werden musste, die Stadt, in der Menschen mit Wäscheständern U-Bahn fahren, in der es egal ist, wie ich rumlaufe und wo immer irgendetwas rumliegt. Die Stadt, die von Seen, Kiefern und Buchen und rührend ausgemergeltem Sandboden umgeben ist, in der ich nichts Pittoreskes finde, aber eine eigene, schroffe Zärtlichkeit, viele Lebensentwürfe und völlig unterschiedliche Stadtteile nebeneinander: die Möglichkeit einer stetigen Neuentdeckung, egal, um welche Uhrzeit.
Und was ist das genau: Heimat?
Fine: Heimat ist Gefühl. Auch ein kleines Gefühl zählt ja. Heimat ist ein Geruch, eine Vertrautheit. Heute morgen in der Grimmstraße hat es nach Holzofen gerochen, da war ich direkt wieder im Italienurlaub mit meinem Gefühl. Aus Schöneweide bin ich schon lange weggezogen und trotzdem ist immer noch diese extra Sehnsucht da und ein seltsame Liebe. Nach dem speziellen Licht, der Architektur, dem Wasser. Sehnsucht funktioniert am besten mit Abstand. Immer.
Heimat sind Menschen: Katzen binden sich ja an Orte, Hunde an ihr Rudel. Auf den Schultern meine Papas war ich jahrelang genauso zu Hause wie in meinem Zimmer oder der Achselhöhle meiner Mama. Heimat ist Geborgenheit und Erinnerung: Da, wo es gut war. Ich bin auch im Sommer zuhause, wenn es nach warmen Regen riecht. Oder im Winter, wenn ich den letzten Kohleofen in Berlin erschnuppere.
Madeleine: Ich glaube, ich bin noch nicht fertig damit, diesen Begriff für mich zu definieren, vielleicht begleitet einen das auch das gesamte Leben lang. Heimat ist Identität, ist Geborgenheit, ist Geschichte und Zugehörigkeit. Heimat ist Coming of Age. Heimat, das sind Orte und Erinnerungen, commitment und Vertrauen, Heimat ist Zuhause und somit auch etwas, das ich selbst erschaffen kann. Peter Fox’ „Haus am See“ oder, wie in „To built a home“ von The Cinematic Orchestra: „I built a home, for you, for me.“ Die eigene Gang, meine selbst gegründete Familie: Mein Freund, meine Kinder und das, war wir gemeinsam neu erleben und zu Erinnerungen machen, ist meine Heimat. Auf der A9 aus München kommen und wieder Kiefern sehen, deren Stämme im Sonnenuntergang rot leuchten, unspektakulär und wunderschön.
Ihr habt dann Eure Heimat verlassen und seid seitdem an verschiedenen Stationen (u.a. Paris, Wien etc.) gewesen: Hat sich da etwas (was) nach Heimat angefühlt, was hat geholfen in der Fremde? Hattet ihr Heimweh?
Fine: Ich tue mich schwer mit Reisen und habe jedes Mal schreckliches Lampenfieber. Eigentlich kann ich nicht verstehen, warum Orte nicht mehr mir gehören. Wenn ich in Paris bin, meide ich die Rue des Vertus – es tut einfach zu weh, nicht in diese rote Tür reinzugehen, die Treppe rauf und Zuhause zu sein.
Vielleicht ist es Frühvergreisung, aber ich kehre gerne im Kopf an die Orte zurück, die für mich Heimat sind. Ich liebe den Geruch von warmer Dachpappe im Sommer. So hat es in meinem Kindergarten gerochen und auch in den Gartenlauben meiner Großeltern. Letztes Wochenende haben wir Familienmitglieder meines Freundes auf ihrem Stellplatz in Zeesen besucht, da hat es wieder so gerochen und wir wollten gleich einziehen. Einstiegsfrage auf dem Spielplatz dort war „Bist du auch Dauercamper?“
Madeleine: Ich kenne das auch, dieses „umgekehrte Heimweh“: nach Orten, die zu einem gehört haben und jetzt nicht mehr, Häuser, in denen fremde Menschen wohnen, Straßen und Brachflächen, die es nicht mehr gibt, polierte Fassaden und neue Supermärkte und rosafarbene Neubauten, deren Bewohner keine Ahnung haben, dass die Rutsche auf dem Spielplatz im Sommer immer die allerheißeste des Dorfes war, dass wir Baumhäuser gebaut haben und unter weggeworfenen Autoteppichen die Eidechsen wohnten, dass der Rodelhügel früher ein Haus mit Sonnenblumengarten war.
Das Verrückte ist, früher ist noch nicht mal besonders lange her. Was ich erst lernen musste, war, Orte so zu nehmen, wie sie sind. Nicht nach Analogien zu suchen, nach etwas, das vermeintlich bekannt und ähnlich ist. Natürlich mache ich das immer noch und freue mich daran, wenn mich eine Sache an eine ganz andere erinnert. Aber jetzt spielerisch und nicht mehr suchend. Mit Orten ist es ja wie Menschen, man sollte sie, denke ich, in ihrem So-sein erst nehmen und ihnen ebenbürtig begegnen, ohne ständige Projektionen.
Was ich überdies festgestellt habe, ist, dass ich wohl nie wirklich außerhalb des deutschsprachigen Raumes leben kann. Eine Zeitlang bestimmt, ich möchte noch viel sehen von der Welt. Nur ist die deutsche Sprache und der Umgang mit ihr, privat und beruflich, für mich so identitätsstiftend und elementar, bedeutet mir so viel, dass ich das nicht aufgeben könne. Vielleicht ist Heimat also auch ein wenig „Muttersprache“, zumindest für mich.
Fine, Du bist in OSW groß geworden:
Wie war es hier aufzuwachsen?
Und welche Erinnerungen sind besonders prägend gewesen?
Fine: Ich hab gestern nach Fotos von Schöneweide gesucht und obwohl ich viele Bilder im Kopf habe, ist wohl wenig fotografiert worden. Es war wohl einfach nicht so ein Hintergrund für Fotoalben. Stattdessen zu sehen: auf Reisen, Garten der Großeltern etc.
Ich versuche deshalb gerade, meine Kopfbilder aufzuzeichnen und daraus ein Buch zu machen: Besonders prägend war natürlich die Wende, die in Schöneweide überall sichtbar waren: Die Arbeitslosen in den Kneipen, die zugemauerten Häuser, unsere abgerissener Balkon, die Trabischlange zur Brücke in den Westen, Demos gegen die Treuhand – es war schon krass.
Dann kam die Wende mit den ganzen Arbeitslosen, das war heftig. Und dann kamen die Nazis, das war schlimm.Wenn ein Viertel sozial so abgewirtschaftet ist, versuchen die Stadtplaner ja immer eine U-Bahn-Anbindung zu legen, damit die Studenten kommen. In Schöneweide war man ganz schlau und hat gleich eine ganze Uni in die leerstehenden Fabriken geholt. Dazu Atelierstiftungen und Kreativwirtschaft.
Die ehemaligen vietnamesischstämmigen Gastarbeiter durften nach der Wende endlich langfristig da bleiben. Sie konnten Familien gründen und sind immens an der Aufwertung des Viertels beteiligt. Das Niveau der Grund- und Weiterführenden Schulen hat sich enorm gesteigert. Ich kann den Teil der Bevölkerung verstehen, der Angst vor Gentrifizierung hat. Aus meiner Sicht jedoch, hat Schöneweide lebensqualitätstechnisch die beste Phase seit Jahrzehnten.
Bist Du noch manchmal hier, wenn ja, was hat sich alles verändert?
Fine: Ich habe bisher alle Menschen, die mir wichtig waren, mal durch OSW geschleust, inklusive Madeleine. Vor Jahren habe ich mal im Kranhaus gespielt als Freunde dort ihren 30. Geburtstag feierten. Madeleine und ich haben in Schmöckwitz auf dem Zeuthener See den Segelschein gemacht, dort wurde uns eine bestimmte Ärztin auf der Griechischen Allee empfohlen, bei der der Sehtest für Segler besonders günstig wäre. Da haben wir dann einen schönen Fahrradausflug hin gemacht.
Auch meine Hebamme hat ihre Praxis in Johannisthal. Eine tolle Type, was hätte ich ohne Anja gemacht. Auf dem Rückweg von den Untersuchungen habe ich mich dann manchmal mit einem Schöneweider Eis und Kindheitserinnerung (jetzt neu mit eigenem Kind im Bauch!) belohnt. Christel, die erste Kindergartenerzieherin von meiner Tochter wohnt in Niederschöneweide in einer tollen Wohnung mit Balkon auf die Spree, dort sind wir manchmal zu Besuch und wenn wir dann wieder in unsere rumpelige Sonnenallee fahren, frage ich mich, was der Quatsch eigentlich soll.
Was wünscht ihr euch für Berlin/ bzw. Neukölln wo ihr aktuell wohnt und für Oberschöneweide?
Fine: Als Kind habe ich immer von einer Fußgängerbrücke über die Spree geträumt, damit mein Schulweg kürzer ist. Jetzt gibt es den Kaisersteg wirklich. Einige Wünsche sind also schon in Erfüllung gegangen. Ich habe das Gefühl, es wird härter. Nachdem es nach der Wende zwar ganz hart war, sich aber auch neue Möglichkeiten aufgetan haben, werden jetzt die letzten Freiflächen verteilt, Clubs geschlossen, Fördergelder für soziale Projekte gestrichen, landeseigene Gelände verkauft, Mietwohnungen in Eigentumswohnungen umgewandelt.
Ich wünsche mir mehr Investitionen in sozialen Wohnungsbau. Ich wünsche mir mehr Kindergärten und dass die Erzieher*innen besser bezahlt werden. Überhaupt alle, die im Sozialwesen arbeiten. Das sind aber eher globale Wünsche.
Für Schöneweide wünsche ich mir, dass die jungen Leute, die hier mit frischen Ideen und Konzepten für Cafés, Ladengeschäfte, Kreativ-Büros etc. kommen, sich mit den Viertelbewohnern austauschen und alle sich ohne Vorurteile aneinander gewöhnen. Die neuen Zeiten sind längst angebrochen und ich freue mich über die Nutzung der schönen Gebäude. Das ist die neue Chance und ich hoffe auf Nachbarschaftlichkeit und Miteinander.
Ich glaube nicht, dass sich der Wandel aufhalten lässt und deshalb wäre ich gerne dabei und wünsche mir, dass auch andere dabei sind: Geht wählen, organisiert euch, lernt eure Nachbarn kennen, redet miteinander, helft einander, räumt den Kiez auf, veranstaltet ein Straßenfest, trennt Müll, setzt Eure Mieterrechte durch – der Mieterschutzbund hilft. Und weil das hier ein Wunschkonzert ist, wünsche ich mir noch eine Straßenbahn für Neukölln (die fehlt mir hier im Westen am meisten), für Oberschönerweide ein Flussbad an der Nalepastraße und natürlich, dass die Spree Badequalität hat!
Madeleine: Ich kann Fines Ausführungen eigentlich kaum etwas hinzufügen. Ich wünsche mir, nebst Radbahn, Hinterhofgärten und wegweisenden Projekten vor allem: Organisches Wachstum. Nachhaltigen Städtebau und gesellschaftliche Teilhabe an urbanen Prozessen, nicht nur kurzsichtigen „Ausverkauf“ der Stadt an die Meistbietenden. Weniger Parallelgesellschaft und mehr Miteinander: Hinsehen, zuhören, aufeinander achten. Denn eine Stadt besteht nicht aus Beton und Fahrbahnmarkierungen, sondern aus den Menschen, die sie definieren.
the end. fast. Denn
Wir haben uns gleich noch mal getroffen und haben mit Fine eine Fahrradtour durch Oberschöneweide gemacht. Ihr das heutige OSW und das Wasser gezeigt, das man früher nur erahnen aber kaum sehen konnte und schon gar nicht am Ufer entlang spazieren konnte. Wir haben versucht uns vorzustellen, wie es früher hier war und sie hat uns gezeigt wie weit ihre Welt ging (sie fing in der Rathenaustraße über der Metzgerei an und ging bis zur heutigen Sparkasse an der Firlstraße. Am Ende ihrer Welt in ihrer Kindheit stand da kein Haus.
Fotos und Bilder: Matrosenhunde
zusammengetragen von Leo
Peter Katona
11. Juli 2017 at 9:01Sehr schöner, gut ausgewogener Artikel! Nicht das übliche OSW-Bashing.
Zwergenmama L.H.
12. Juli 2017 at 20:54Toller Artikel, klarer, ehrlicher Blick ins alte OSW, meiner neuen Wahlheimat seit 8 Jahren, inzwischen mit eigener Familie. Mehr davon, von Heimat, von OSW 🙂
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